Die Ränder der Welt

Der Suur Munamägi (auf Deutsch: Großer Eierberg) ist zwar gerade mal 317,6 Meter hoch, aber dennoch die höchste Erhebung im Baltikum. Vom Aussichtsturm kann man aus einer Höhe von 346,7 Metern ins Land blicken. Das zeigt sich im Südosten Estlands sehr hügelig, dicht bewaldet, ein paar Seen glitzern in der Sonne. Hier ist Wintersportgebiet, und heute haben wir bereits Langläufer mit ihren Sommerskatern über die Radwege heizen sehen. Im Winter werden die beleuchteten Radwege als Loipen genutzt.

Vasknarva markiert wieder ein Ende der Welt, eine Außengrenze der Europäischen Union. Auf dem gegenüberliegenden Ufer ist Russland. Einen Grenzübergang allerdings gibt es hier nicht. Die Grenzpolizei kontrolliert mit Wachtürmen und Booten den Fluss Narva, den einzigen Abfluss des Peipsi-Sees. Die Grenze verläuft in der Flussmitte. Das Dorf ist ziemlich isoliert: Im Süden liegt der Peipsisee, der Grenzfluss zu Russland an der Ost-Seite, im Norden endet die Straße in den Sümpfen der Narva.

In Narva lässt sich die estnisch-russische Grenze und die schleppende Blockabfertigung an der EU-Außengrenze prima beobachten. Gegenüber der Hermannsfeste thront die riesige, imposantere Festung Iwangorod, auf deren Zinnen ebenfalls Touristen spazieren und in den Westen spähen. Wir beobachten, dass die russische Abfertigung viel schneller läuft - zumindest auf der Brücke über die Narva, die Kontrollen im Vorfeld und nach der Brücke können wir nicht sehen.

Sabile sollte jedem Weinkenner ein Begriff sein: In Sabile stehen die am weitesten nördlich gelegenen Weinreben in einem überschaubar kleinen Weinberg. Wie der nördlichste Wein der Welt schmeckt, konnten wir leider nicht testen, denn das zentral gelegene Gasthaus, das mit Weinausschank wirbt, hatte nur noch Apfel- und Aronia-Wein im Angebot. Vielleicht gibt es die edlen Tropfen ja beim Weinfest Ende Juli?

Nach Stikli führt nur eine staubige, sandige, geschotterte Piste. Und dann ist Schluss. Wie wir mit den Rädern erkundet haben, enden die anderen Wege aus dem Dorf alle an einem der Seen in der Umgebung oder im morastigen Wald. Denn Stikli liegt inmitten eines ausgedehnten Moorgebiets, das teilweise unter Naturschutz steht. Im Ort selbst geht es eher lebhaft zu: Viele Kinder auf den Straßen, tolle Kinderspielplätze und Ertüchtigungsgeräte für alle Altersgruppen. Wohnen können sie in den viergeschossigen Plattenbauten oder den schmucken Villen mit Garten gleich nebenan.

Es ist zwar nicht der nördlichste Punkt Lettlands, aber dennoch eine interessante Wegmarke. Auf der einen Seite braust die See schäumend ans Ufer, auf der anderen Seite kräuseln sich kaum Wellen: Kap Kolka markiert den Übergang der rauen Ostsee in die Rigaer Bucht. Das Kap Kolka liegt inmitten des Slitere-Nationalparks, einem einzigartigen Küstenurwald, der nur deshalb so intakt ist, weil dies zur Sowjetzeit bis 1990 militärisches Sperrgebiet war.

Etwas südlich von Liepāja liegt der Naturpark Bernati. Er vereint den Pusena-Berg (mit 37 m die höchste Düne Lettlands) und den westlichsten Punkt Lettlands. Der Strand mit seinem schönen weißen Sand, die Dünen und der Kiefernwald locken im Sommer viele Besucherinnen und Besucher an. Wir fanden das Treibholz mit Metallstütze ganz nett.

An Pfingstsonntag 2014 gelangen wir wieder an einen Rand, an die Außengrenze der EU zwischen Polen und Weißrussland. Neue, große Gebäude auf beiden Seiten der Grenze, aber: kein Verkehr, kein Mensch auf der Straße, keine Zöllner, keine Grenzschützer - mehr als 30 Minuten lang war gar nix los; dann sind wir wieder zurück nach Bialowieza geradelt.

Noch ein Mittelpunkt, aber in einer anderen Dimension, der Zeit: Unsere „Mitteleuropäische“ ist „Görlitzer Zeit“. Auf der Internationalen Meridiankonferenz 1884 in Washington wurde der Nullmeridian auf die Lage der Sternwarte in Greenwich bei London festgelegt. Zudem wurde die Erde in 24 Zeitzonen von je einer Stunde mit jeweils 15 Längengraden aufgeteilt. Für Deutschland wurde 1893 verfügt: „Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich.“ Der 15. Meridian läuft durch Görlitz, die Ortszeit entspricht der MEZ.

Geografen des französischen Geografie-Instituts haben 1989 den Flächenschwerpunkt des europäischen Kontinents ermittelt. Im Schnittpunkt der Linien zwischen Gibraltar und dem Ural sowie dem Nordkap und Kreta liegt das Herz Europas: Mitten in der litauischen Provinz, bei Purnuškės, 26 Kilometer nördlich von Vilnius. Die Koordinaten 54° 54′ 0″ N, 25° 19′ 0″ O stehen auf einem Granitbrocken, die besternte Säule nebst den europäischen Flaggen gleich daneben.

Die geographische Mitte der Europäischen Union lag nach der Aufnahme Kroatiens am 1. Juli 2013 in der Schulzengrundstraße von Westerngrund, Landkreis Aschaffenburg, Bayern. Dort haben wir nach einem Zeichen gesucht, aber nur zwei Deutschlandfahnen gefunden, keine Europaflagge, kein Erinnerungsstein, nichts. Auch in der Dorfbäckerei war frau ratlos. Beim Weiterfahren entdecken wir doch noch einen Hinweis auf den Mittelpunkt der Europäischen Union und fahren zum neu angelegten Gelände oberhalb von Westerngrund. Des Rätsels Lösung liegt im Beitritt des französischen Überseedepartements Mayotte (Inselgruppe nordwestlich von Madagaskar), der den EU-Mittelpunkt am 1. Januar 2014 um 500 m verschoben hat. GPS: 50° 7′ 0″ N, 9° 15′  0″ O
Rechnet man allerdings alle europäischen Überseegebiete hinzu, liegt das Herz Europas mitten im Atlantik. Mehr Infos