Wir cruisen durch Estland, zunächst die Ostsee entlang und auf die großen Inseln Mahu, Saaremaa und Hiumaa, dann über die Unesco-Welterbestadt Tallinn und an der Glintküste längs bis nach Narva an der russischen Grenze. Ab jetzt ging es wieder nach Süden – entlang des Peipussees, durch die Gebiete der Altgläubigen und "Zwiebel-Russen", dann in die lebendige Universitätsstadt Tartu und weiter zur lettischen Grenze.
Mo 18.8.2014. Wir reisen aus Estland nach Lettland – und damit sind wir wirklich auf der Heimreise. Wieder gibt es keine Kontrolle, kein Personal läuft rum, keine Warteschlange an der Aus- und Einreise – einfach nur auf der Autobahn weiterfahren. Wir lieben die grenzenlose EU und machen doch einen Stopp an der Grenze - zum Picknick in der Ausreisespur vor den alten Grenzkontroll-Gebäuden. Statistik: Wir waren 29 Tage in Estland und sind 1667 km gefahren.
Der Suur Munamägi ist zwar gerade mal 317,6 Meter hoch, aber dennoch die höchste Erhebung im Baltikum. Vom Aussichtsturm kann man aus einer Höhe von 346,7 Metern ins Land blicken. Das zeigt sich im Südosten Estlands sehr hügelig, dicht bewaldet, ein paar Seen glitzern in der Sonne. Hier ist Wintersportgebiet, und heute haben wir bereits Langläufer mit ihren Sommerskatern über die Radwege heizen sehen. Im Winter werden die beleuchteten Radwege als Loipen genutzt.
Der Große Eierberg, wie der Suur Munamägi auf Deutsch heißt, zieht auch immer wieder Künstler an, die hier ihre Werke in die Landschaft stellen. Heute sehen wir einige tolle Schnitzarbeiten an abgestorbenen Bäumen, deren Wurzeln noch im Boden stehen. Und die wunderbaren Riesen-Eier, die hoch in den Astgabeln in einem Nest aus Birkenästen oder auch Stahlstangen schweben. Es gab auch kleine Teile der Holzschnitzkunst für die Schmuck-Schatulle.
Wir haben uns oft gefragt, wie es den Esten mit gerade mal 1,3 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern (das entspricht einer Stadt wie München) gelingt, einen ganzen Staat mit Bildung und Verkehrswegen, Kultur- und Freizeitinfrastruktur, Sicherheit und Schutz einer langen EU-Außengrenze zu organisieren. Eine kleine Broschüre der Stadt Tartu lässt uns ahnen, wie das gehen könnte.
Tartu hatte am 1.1.2014 genau 97.847 registrierte Einwohner (2013 waren es noch 98.480). 2013 gab es einen Geburtenüberschuss von 246 Neugeborenen gegenüber den Verstorbenen. 12.944 Firmen sind in Tartu angesiedelt; nur 18 davon sind Niederlassungen ausländischer Unternehmen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,8 %. Tartu wird organisiert von einer überaus schlanken Stadtverwaltung: Lediglich 314 Angestellte erledigen alle Rathausangelegenheiten der 98.000-Einwohner-Stadt. Der Verwaltungsausschuss hat sechs Mitglieder.
Das Budget liegt 2014 bei 135 Mio. Euro (zum Vergleich: die 37.599-Einwohnerstadt Leinfelden-Echterdingen hat 2014 einen Etat von 135.900.950 Euro). Die Einnahmen kommen überwiegend aus Zuweisungen (44,7 %), Einkommenssteuer (41,8%) und Verkauf von Sach- und Dienstleistungen (11 %). Das Gros der Ausgaben fließt in die Bildung (48,2 %), gefolgt von Wirtschaftsförderung, Verkehr, Transport, Tourismus (25,6 %), Soziale Sicherung und Sozialwesen (7 %), Freizeit und Kultur (6,6 %). Für die allgemeine Verwaltung gibt Tartu 7,2 % des städtischen Etats aus, für Öffentliche Ordnung weitere 0,2 %.
Letzteres mag daran liegen, dass einzelne Aufgaben unserer Ordnungsämter bei staatlichen Behörden angesiedelt sind, vielleicht auch daran, dass man hier kaum Politessen braucht, denn abgesehen vom innersten Altstadtkern kann man überall kostenlos parken (Parkgebühren werden in Estland selbstverständlich per Handy bezahlt). Für die sportlich Aktiven stehen 47 Sporthallen, zehn Stadien und sieben Schwimmhallen zur Verfügung. Die Jugendlichen können vier Jugendzentren und zwei städtische Jugendeinrichtungen besuchen. Fünf Stadtteilzentren verteilen sich über die Stadt.
In Tartu gibt es 41 vorschulische Einrichtungen für 5700 Kinder, 28 allgemeinbildende Schulen für 12.998 Lernende, 5 Berufsschulen für 4101 Auszubildende, 11 Hochschulen für 20.358 Studierende sowie 17 Musik- und Kunstschulen für 2316 Lernende. 140.225 Besucherinnen und Besucher haben die sieben Theatersäle (1870 Sitzplätze) besucht, 497.302 Menschen besuchten eins der neun Kinos, 46.828 Besucher wurden in den 20 Museen gezählt. Die vier öffentlichen Bücherhallen verzeichneten 569.818 Besucher.
Fr 15. – Sa 16.8.2014. Tartu, die älteste und zugleich zweitgrößte Stadt Estlands, vereint wenige mittelalterliche und viele klassizistische Gebäude in der Innenstadt. Der Domberg wurde lange als Festung genutzt, dann nahm die Universität mit Sternwarte und Anatomischem Theater die Hügel in Besitz. Die Engelsbrücke und die Teufelsbrücke verbinden die beiden Hügel des Dombergs. Die Ruine der Domkirche und der umgebende Park bieten das passende Ambiente für Hochzeitsbilder.
1632 gründete der schwedische König Gustav II Adolf die mit über 20.000 Studierenden heute größte Universität des Landes. Bis 1895 wurde hier in deutscher Sprache gelehrt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde sie zur Keimzelle des Nationalen Erwachens. Das klassizistische Hauptgebäude mit dem mächtigen Eingangsportal hat uns schon beeindruckt. Leider sind wir im August hier, und da sind Semesterferien. Über das studentische Leben können wir deshalb nichts sagen.
Bezeichnend ist vielleicht, dass die Stadt ihren Studierenden 1998 ein Denkmal vor dem Rathaus gesetzt hat: die küssenden Studenten. Die zahlreichen Kneipen, Cafés und Restaurants, die vielen Kulturfeste im Jahreslauf zeigen eine lebendige Stadt. Gerade finden ein Open-Air-Liebesfilm-Festival in der Innenstadt und ein Flussfest am Emajögi statt. Vom Filmfest hören wir nur Reden und Rockmusik, von Emajögi-Fest sehen wir einen Angelwettbewerb mit Siegerehrung.
Gegenüber der Tartuer Redaktion der renommierten estnischen Zeitung „Postimees“ erinnert ein Denkmal an den früheren Besitzer und Chefredakteur Jaan Tönisson. Er war während der ersten Unabhängigkeit Estlands in den 1920er-Jahren auch Premierminister des Landes. 1940 wurde er von der russischen Okkupationsmacht verhaftet und starb vermutlich 1941 im Gefängnis. Heute sehen wir nur wenige Menschen mit Papierzeitung; die meisten lesen wohl online.
Im Stadtteil Supilinn, der „Suppenstadt“, sind die Straßennamen nach Gartenerzeugnissen benannt – Kartoffelstraße, Erbsenstraße, Melonenstraße … Bunte Holzhäuser, mehr oder weniger renoviert, haben einen ganz eigenen Charme und Charakter. In den Häusern mit den geschnitzten Holzverzierungen wohnen bis heute zahlreiche Studentinnen und Studenten. Wir haben oberhalb von Supilinn an einem kleinen Park frei übernachtet.
Mo 11. – Fr 15.8.2014. Das schwäbische Meer passt hier rund achtmal rein. Der Peipsi Järv (Peipussee) ist mit mehr als 3550 Quadratkilometern der größte See Estlands und der fünftgrößte in Europa. Im Norden ist er eher flach; seine tiefste Stelle mit 17,5 m liegt bei Mehilkoorma im Süden. Mit seiner Länge von 143 km und bis zu 48 km Breite wirkt er eher wie ein Meer. Zumal bei windigem Wetter auch die Wellen schäumen und hoch schlagen.
An der Nordküste breiten sich herrlich-flache Sandstrände aus. Unser Suvi-Hotel-Camping zwischen Alajoe und Remniku lag einsam mitten im Wald. Neben ein paar Hotelgästen waren wir wieder mal die einzigen Camper auf dem riesigen Platz mit Minigolf, Kinderspielplätzen und natürlich direktem Zugang zum Sandstrand. Uns hat besonders das riesige Grill-Haus begeistert. Hier können 12 Grillfeuer parallel entfacht, das Grillgut bequem in Stehhöhe gewendet werden.
Mustvee an der Westküste steht für religiöse Vielfalt. Wir haben hier vier Gotteshäuser besucht: die russisch-orthodoxe Kirche, die Kirche der Altgläubigen, evangelisch-lutherische Kirche sowie die (nicht von den anderen Kirchen anerkannte) Vereinigungskirche; die Baptisten haben wir nicht gefunden. Nur die Kirche der Altgläubigen war offen. Im Inneren wirkt sie nicht viel anders als eine russisch-orthodoxe, vielleicht mit etwas weniger Blattgold. Kopftuchzwang für Frauen.
Kallaste lockt mit einem zehn Meter hohen und 900 m langen roten Sandsteinfelsen, in dem die Seeschwalben nisten, ans Peipsi-Ufer. Auch Kallaste ist ein typisches Altgläubigen-Dorf. Die sind hierher geflohen, weil sie die Neuerungen der russisch-orthodoxen Kirche im 18. Jahrhundert nicht mittragen wollten. Am Westufer des Peipsi haben sie lange Straßendörfer gegründet. Am Straßenrand verkaufen sie selbst gezogenes Gemüse (vor allem Zwiebeln) und Fisch.
Das Kloster Pühtitsa ist das einzige russisch-orthodoxe Nonnenkloster Estlands, das auch während der Sowjetzeit bewohnt war. Auch heute leben die Nonnen in autarker Gemeinschaft, bauen Obst, Gemüse, Getreide an und betreiben Viehzucht. Zum Kloster gehören neun Kirchen. Die Uspenskij-Kathedrale auf dem von Mauern umgebenen Klostergelände wirkt auf uns nicht so gold-überladen wie etwa die Kirche in Narva. Weiblicher eben.
Vasknarva ist ein kleines und zugleich eines der abgelegensten Dörfer in Estland. Im Süden liegt der Peipsisee, der Grenzfluss zu Russland an der Ost-Seite, im Norden endet die Straße in den Sümpfen der Narva. Die Häuser sind schön herausgeputzt, die Gärten blühen, die Bäume und Sträucher hängen voller Obst. Die Größe der orthodoxen Kirche und der hervorragende Zustand haben uns erstaunt. Bis Vasknarva sind wir auf bestem Asphalt geradelt.
Vasknarva markiert wieder ein Ende der Welt: Hier ist eine Außengrenze der Europäischen Union. Auf dem gegenüberliegenden Ufer ist Russland. Einen Grenzübergang allerdings gibt es nicht. Die Grenzpolizei kontrolliert mit Wachtürmen und Booten den Fluss Narva, den einzigen Abfluss des Peipsi-Sees. Die Grenze verläuft in der Flussmitte. Ob die Fischer hüben und die Badenden auf der anderen Seite sich immer daran halten?
Die Reisen von Udo aus Balingen und Gerhard aus Ravensburg haben uns mächtig imponiert. Beide sind unabhängig voneinander vor zwei Monaten in ihren Heimatorten aufgebrochen und mit dem Fahrrad und allem Gepäck über Polen, Litauen, Lettland nach Estland geradelt. Sie haben sich immer mal wieder getroffen und sind wieder einzeln weiter gefahren. Zu ihren letzten Etappen nach St. Petersburg sind sie in Toila gemeinsam aufgebrochen. Euch noch eine gute Zeit.
Narva ist eine überaus russische Stadt. Zwar wurde die Lenin-Statue in einen hinteren Winkel der Hermannsfestung verbannt, der Stern mit Hammer und Sichel thront aber immer noch auf der Säule in bester Innenstadtlage. Rund 95 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner Narvas zählt zur russischsprachigen Minderheit in Estland; die Alltagssprache ist russisch. Alle Speisekarten sind nur auf Russisch und Estnisch – im Gegensatz zum übrigen Land.
Wahrzeichen der drittgrößten Stadt Estlands ist die Hermannsfeste, ursprünglich eine Festung des Deutschen Ordens. Vom Langen Hermann hat man einen guten Blick auf den Fluss Narva, der hier Estland von Russland trennt. Im Sommer wird ein Mittelalterspektakel in der Burg und anderen Befestigungsanlagen der Stadt inszeniert – „Living History“ heißt das auf neudeutsch. Abends gibt es sogar ein kleines „Kino auf der Burg“; Sitzplätze für 2 Euro, Filme auf Russisch.
Zwei bedeutende Kirchen gibt es in Narva, die achteckige evangelisch-lutherische Alexanderkirche und die russisch-orthodoxe Auferstehungskathedrale im neobyzantinischen Stil. Uns haben der immense Goldschmuck und die wertvollen Ikonen der russischen Kirche beeindruckt. Eine Frau, die hier kein Kopftuch dabei hat, kann eins ausleihen. Denn das Betreten des Innenraums ist nur mit bedeckten Schultern und Knien gestattet, bei Frauen zusätzlich mit bedeckten Haaren.
Von Narva aus lässt sich die estnisch-russische Grenze und die schleppende Blockabfertigung an der EU-Außengrenze prima beobachten. Gegenüber der Hermannsfeste thront die riesige, imposantere Festung Iwangorod, auf deren Zinnen ebenfalls Touristen spazieren und in den Westen spähen. Am Ufer der Narva übrigens das gleiche Bild: Auf beiden Seiten promenieren Leute am Strand, auf der estnischen Seite schwimmen sie sogar im Grenzfluss.
Sillamäe ist eine der jüngsten Städte Estlands. Im 19. Jahrhundert entwickelte es sich als betulicher Badeort, Ende der 1920er-Jahre kam die Ölschiefer-Industrie dazu. Der große Aufschwung kam in den 1950er-Jahren, als hier 20.000 Russen angesiedelt wurden, die in der hermetisch abgeriegelten Urananreicherungsfabrik arbeiteten. Seit die Fabrik 1989 geschlossen wurde, ist die Luft zwar besser, dafür bröckelt der Putz allerorten. Nur das Rathaus und der Kulturhaus strahlen frisch renoviert. Das Kulturzentrum wurde 1949 als Kino eingerichtet; erster Film: „Tarzan“.
Vor der Küste warten die Frachtschiffe, im Industriehafen von Sillamäe werden sie befüllt – wir vermuten, auch mit dem Öl, das im Hinterland aus Ölschiefer, dem einzigen Rohstoff Estlands, gewonnen wird. Die riesigen Speicheranlagen zumindest deuten darauf hin. Das Radeln auf den üblen Wegen entlang der Industrieanlagen macht auch definitiv keinen Spaß. Im Nordwesten der Stadt lagern noch 6 Mio. Tonnen nuklearer und chemischer Abfälle in einem vergifteten See.
Kunda ist seit langem ein Zentrum der Zementproduktion. Entsprechend versank der Ort unter dem Staub aus der Zementfabrik. Nach den nun geltenden EU-Richtlinien wurden neue Filter eingebaut. Heute ist die Staubbelastung aus der Zementfabrik, die zu Heidelberger Cement gehört, sehr zurückgegangen. Das sehenswerte Museum auf dem Firmengelände informiert in Estnisch, Russisch und auf einem Beiblatt in Englisch über die Zementproduktion.
In Kohtla-Järve wird Ölschiefer abgebaut und verarbeitet. Entsprechend raucht und qualmt es aus vielen Schloten. Museumsreife Fabriken und kilometerlange Rohrleitungssysteme vereinen sich in einem riesigen Industriegebiet, daneben türmen sich die Abraumhalden auf 100 Meter Höhe. Die Verbrennung des Ölschiefers belastet die Luft enorm. Die Arbeitslosenquote ist hoch, die Zukunftsperspektiven sind eher lausig.
Die Pärispea-Halbinsel im Lahemaa-Nationalpark ragt am weitesten nördlich in die Ostsee. An ihrer Spitze liegt die Purekkari Nehrung, die den nördlichsten Punkt des estnischen Festlands markiert. Auf der Landzunge häufen sich wieder die Findlinge. Ein richtig hoher, schwerer Brocken ist auch wieder dabei, auf dem die Touristen und Einheimischen gerne herumturnen. Für uns geht die Reise ab jetzt wieder nach Osten und Süden.
So, 3.8. - Do, 7.8.2014. Lahamaa heißt Buchtenland. Vier Buchten bilden den Nationalpark (von Westen): Kolga, Hara, Eru und Käsmu. Dazwischen ragen Halbinseln wie Finger in die Ostsee: Juminda, Pärispea, Käsmu und Vergi. Und überall dazwischen hat die Eiszeit ihre Spuren hinterlassen. Die riesigen Findlinge stammen aus dem hohen Norden und wurden vom Kontinentaleis bis hierher mitgeschleppt. Seit dem Abschmelzen der Gletscher liegen die tonnenschweren Teile hier rum.
Die Halbinsel Vergi ist die Heimat der Biber. Auf dem schön angelegten Biberpfad konnten wir angenagte Bäume sehen und einen wahrhaftigen Biberbau. Im Lahemaa-Nationalpark gibt es auch Hasen, Füchse und Marderhunde, Luchse und Elche. Sogar zwei Bären sollen sich hier herumtreiben. Alle haben sich vor uns versteckt.
Auf der Käsmu-Halbinsel sind die umfangreichsten Findlingsfelder Estlands. Ob an der Straße oder im Vorgarten, als breites, moosbedecktes Geröllband im Wald oder als einzelne Felsblöcke an der Küste: die Halbinsel ist steinreich. Und auch sonst nicht arm. In der Seemannsschule lernten die künftigen Kapitäne ihr Handwerk und segelten anschließend über die Weltmeere. Davon zeugen die schönen Holzhäuser, die heute als Ferienwohnungen genutzt werden.
Auf der Pärispea-Halbinsel liegen einige der dicksten Findlinge rum – vor der Küste im Wasser oder wie hier im kleinen Fischerort Viinistu an Land. Daneben stand ein Fabrikgebäude, das zum Kunstmuseum umgebaut wurde. Das Museum zeigt einen Querschnitt estnischer Kunst seit Ende des 19. Jahrhunderts und wurde vom Kunstsammler, früheren ABBA-Manager und Außenminister Estlands, Jaan Manitski initiiert. Uns gefallen wieder die jungen Wilden am besten.
Die estnischen Wälder sind anders als die deutschen. Hier gibt es kein dunkles Tannengestrüpp, in dem sich Hänsel und Gretel verlaufen. In den lichten Kiefernwäldern des Nordens stehen die Bäume weiter auseinander und tragen weniger Äste. Hier treffen die Sonnanstrahlen direkt auf den Waldboden. Das ist auch wichtig, denn die leckeren Waldbeeren und Pfifferlinge brauchen Licht zum Wachsen. Hier gab’s Heidelbeeren in Hülle und Fülle.
Das ist kein Schaden, den ein Biber angerichtet hat. Das waren vermutlich die Nationalpark-Ranger. Die Kiefer ist wohl schon eine Weile tot. Da sie an einem viel begangenen Weg steht, haben die Forstleute so geschickt das Beil angesetzt, dass sie – wenn sie vollends umfällt – in eine Schneise zwischen die anderen Bäume fällt. Das spart das spätere Weg-Freisägen. Im Wald dient der tote Baum noch vielen Insekten und Pilzen als Obdach und Nahrung.
Rund um den Jägala-Wasserfall sind viele Picknickdecken ausgebreitet, Grillfeuer würzen die Luft, ein Bad im kaffeebraunen, weichen Wasser ist sehr erfrischend bei den sommerlichen Temperaturen. Es ist wieder Sonntag, da sind viele Esten in der Natur. Das Wasser des Jägala rauscht acht Meter in die Tiefe und nimmt jedes Jahr ein paar Zentimeter des weichen Karstfelsens mit. Durch das seichte Wasser oberhalb geht es bequem auf die andere Seite.
Bis ins Mittelalter reichen die Wurzeln des Gutshofs Palmse zurück. Von 1676 bis zur Enteignung 1919 residierte die deutsch-baltische Familie von der Pahlen im schmucken Herrenhaus mit Orangerie, Schnapsbrennerei, Badehaus, Waschhaus, Scheunen und Stallungen. Zusammen mit seinem herrlichen Park zählt das Gut Palmse zu den schönsten Gutshöfen Estlands. Hier sind auch die Nationalparkverwaltung und das Besucherzentrum untergebracht.
Fr, 1.8. - So, 3.8.14. Wir radeln vom Camping im Pirita-Jachthafen - dieses herrliche Panorama immer neben uns - in die estnische Hauptstadt. Zweimal versuchen wir, mit den Rädern die Altstadthöhe zu erklimmen – und landen zweimal wieder beim selben Ausgang vor der Stadtmauer: Tallinn lässt uns nicht rein ! Wir stellen die Räder bei der Olaikirche (das ist immer noch das Gebäude mit dem höchsten Turm in Tallinn) ab und versuchen es zu Fuß. Das klappt endlich.
Die Altstadtgassen mit den Häusern aus der Hansezeit sind schon faszinierend, gerade wenn man bedenkt, dass hier – im Gegensatz zu Riga – alle Gebäude noch in der Originalsubstanz erhalten sind. Der Peppersack, die Olde Hansa und das Restaurant Balthasar (lecker Essen mit viel Knoblauch!) laden rund um das Rathaus zum zünftigen Schmaus, für die Touristen gerne auch mit Bedienung in mittelalterlichem Gewand und gewürztem Trunk aus dem großen Humpen.
Der Domberg ist von jeher der Sitz der Regierung. Das Quartier um die (russisch-orthodoxe) Aleksander-Newsky-Kathedrale und die (evangelisch-lutherische) Domkirche St. Marien wirkt moderner als das Hanseviertel, viele spätbarocke und klassizistische Gebäude beherbergen Regierungsinstitutionen, das estnische Parlament tagt im mächtigen, zartrosa gestrichenen Schloss. Vom Domberg genießen wir den fantastischen Blick auf die Stadt und den Hafen.
Das Rotermann-Quartier vor den Mauern der Altstadt bietet einen bunten Mix aus Restaurants und Boutiquen, Bürogeschossen und exklusiven Appartements. Der frühere Fabrikkomplex wird nach und nach behutsam saniert und durch neue, architektonisch interessante Gebäude ergänzt. Ähnlich schöne Stadtplanung haben wir rund um den Hafen in Oslo gesehen; ganz anders rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof, wo sich langweilige Bankenpaläste aneinander reihen.
Das KUMU ist ein Gesamtkunstwerk. Geplant vom jungen finnischen Architekten Pekka Vapaavuori, überzeugt das Kunstmuseum durch seinen kreissegmentförmigen Grundriss, der teilweise tief in den Kalkstein eingelassen wurde. Auch innen eröffnet die gelungene Kombination aus Glas, Beton und offenen Arealen immer neue Sichtweisen. Gezeigt wird ein Querschnitt estnischer Kunst - von alten Öl-Schinken über Granitköpfe bis zu den Laser-Installationen der jungen Wilden.
Die Tallinner Sängerfestwiese ist ein wichtiges nationales Symbol. Hier begann 1988 die „singende Revolution“, eine friedliche, musikalisch Demonstration gegen die Sowjetherrschaft und eine bedeutende Stütze der Unabhängigkeitsbewegung. Die muschelförmige Sängerbühne und der grüne Hügel davor sind bis heute alle fünf Jahre Mittelpunkt eines gigantischen Sänger- und Tanzfestes - mit bis zu 30.000 Sängerinnen und Sängern, zu einem Chor vereint.
Campingplätze sind höchst unterschiedlich. Den bisherigen Negativrekord hält der Pirita Sadama Kämping, der Stellplatz beim Hafen Pirita in Tallinn. Für 20 Euro pro Nacht gibt es eine ebene Betonfläche, Stromanschluss und WC. Die übel stinkende Toilette ist in einem fensterlosen Betongebäude ohne Entlüftung, mit Tür-Code, weshalb eine manuelle Lüftung nicht funktioniert. Duschen hunderte Meter weiter in der Mannschaftsdusche der Tennishalle für 3 Euro extra. Das ist einer europäischen Hauptstadt unwürdig.
Das renommierte Kurbad Haapsalu zieht sich auf einer langgestreckten Halbinsel in die Ostsee. Im Herzen thront die Ruine der Bischofsburg. Drumherum enge Gassen, bunte Holzhäuser, elegante Parks. Wir flanieren entlang der Strandpromenade am Kurhaus vorbei. Hier werden wir morgen leider die Barbecue-Meisterschaft versäumen. An der Bank zum Gedenken an Peter Tschaikowski, der hier gerne seine Ferien verbrachte, haben wir seiner Musik gelauscht.
Der prächtige Bahnhof in Haapsalu wurde eigens für den Besuch des russischen Zaren 1907 errichtet. Damit der königliche Hofstaat bei einem Regenschauer nicht nass wurde, wurde ein 216 m langer Bahnsteig aus Holz angebaut - damals der längste Bahnsteig der Welt, und auch heute noch ICE-tauglich. Züge allerdings verkehren hier nicht mehr. Im Bahnhof ist das estnische Eisenbahnmuseum untergebracht, auf den Gleisen davor stehen einige schöne Lokomotiven.
Gerne wären wir noch länger in Haapsalu geblieben, hätten den Dom und das Evald-Okas-Museum angeschaut. Aber „Augusti-Blues“, ein internationales Open-Air-Bluesfestival auf dem Gelände der Burg fängt gerade an – und da ist der Campingplatz leider ausgebucht. Jetzt sagen wir dem Schwäne-Nachwuchs Ade. Nach so viel Natur auf den schönen estnischen Inseln zieht es uns wieder in eine Großstadt. Auf nach Tallinn.
Mo, 28.7. - 31.7.14. Nach ruhiger, freier Übernachtung im Hafen von Triigi verlassen wir Saaremaa mit der ersten Fähre Richtung Hiiumaa. Um 7.45 Uhr haben wir uns in die Reihe „ohne Vorbuchung“ gestellt, um 9.15 Uhr kommt das Schiff, das nur rund 30 Autos transportieren kann; gezahlt haben wir an Bord (16,20 Euro). Rund 75 Minuten dauert die Überfahrt durch die Algenteppiche der Ostsee zum Hafen Söru auf Estlands zweitgrößter Insel.
Auf dem Weg zur Köpu-Halbinsel besuchen wir den wunderschönen Vanajoe-Naturpark. Bestens ausgebaute Holztreppen und Brücken führen uns zum kaffeebraunen, mäandernden Bachlauf und wieder hinauf auf die Höhe der Sanddüne. Hier wurden europäische Nerze ausgewildert. Ob sie auch so gerne wie wir die Heidelbeeren naschen? Gleich nebenan, mitten im Wald, ein toller Picknickplatz mit überdachtem Holzlager und offener Feuerstelle aus Metall.
Der Leuchtturm von Köpu, das Wahrzeichen von Hiiumaa, steht auf der höchsten Erhebung Westestlands. Gebaut wurde er vor 500 Jahren, zur Zeit der Hanse, als steinernes Orientierungszeichen für die Seefahrer. Der massive, quadratische Kalksteinbau ragt 37 m in den Himmel. Als Leuchtturm fungiert er erst seit 1649. Gefeuert wurde erst mit Holz, später mit Öl; Ende des 19. Jahrhunderts setzte man die elektrisch betriebene Beleuchtungskuppel oben drauf.
Am nördlichsten Punkt der Halbinsel Tahkuna erinnert wieder ein Denkmal an den Untergang der Estonia vor 20 Jahren. Die Fähre war auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm, 989 Passagiere und Crew waren an Bord. Nur 137 Menschen haben das schwerste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte überlebt, 94 Tote konnten geborgen werden. Noch immer ist nicht zweifelsfrei geklärt, wie es zu dem Wassereinbruch kommen konnte.
Hier hat es vor 3000-4000 Jahren richtig gerumst: Ein Meteorit zerbrach beim Eintritt in die Erdatmosphäre und hat bei Kaali auf einem Quadratkilometer Fläche neun Krater hinterlassen. Der größte Meteoritenkrater misst rund 100 Meter im Durchmesser und ist 22 Meter tief. Beim Aufprall des 80-Tonnen-Brockens entstand ein mehrere Meter hoher Wall, über den wir zum kreisrunden, grünlich schimmernden See hinabgestiegen sind.
Von außen wirkt die gotische Kirche von Karja eher schmucklos und wehrhaft. Im Inneren verbergen sich Meisterwerke der Steinmetzkunst: eindrucksvolle Figuren aus Saaremaa-Dolomit und fein gearbeitete Gesichter an den Kapitellen und Basen. An der Gewölbedecke des Altarraums sehen wir sonderbare Fresken, Pentagramme, einen Teufel, ein Dreibein – zur Wikingerzeit das Zeichen Odins, im Mittelalter als Symbol der Dreifaltigkeit übernommen.
Dieses Infozentrum mit Meeresmuseum in Lömala ist so neu, dass es in keinem Reiseführer beschrieben ist. Gezeigt werden Bootsmotoren und Anker, Reusen, Blinker und eine Fotoausstellung angeschwemmter Schuhe. Dies belegt einmal mehr, welche Anstrengungen Estland unternimmt, um den Tourismus auf den Inseln zu fördern. In aller Regel sind die Beschreibungen auch auf Englisch. Ein Schild mit Europaflagge dokumentiert, dass hier auch EU-Mittel geflossen sind.
Kuressaare ist die Hauptstadt der Insel Saaremaa und wegen ihres milden Klimas, der schönen Strände und unberührten Natur drumrum ein überaus beliebtes Ferienziel. Die Bischofsburg ist als einziger Festungsbau des Baltikums noch weitgehend im Original erhalten. Wir konnten sie frei besichtigen und auf den Wällen herumlaufen. Lediglich der Bereich für das gerade stattfindende Opernfestival war nicht zugänglich.
Die Skulptur „Suur Töll und Piret“ des Künstlers Tauno Kangro steht auf der Promenade vor den großen Kurhotels. Sie zeigt zwei beliebte Sagengestalten der Insel, den großen Töll und seine Frau Piret, die gemeinsam ein Boot voller Fische tragen. Rund um den Riesen Töll, der bereits als Kind so viel gegessen haben soll wie fünf erwachsene Männer, ranken sich viele Geschichten. Und sein Schnarchen soll noch auf dem Festland zu hören gewesen sein.
Die einsame Sörve-Halbinsel ragt 32 km weit in die Ostsee hinein. Wir fahren durch Wälder und Wachholderhaine, die Heuernte ist in vollem Gange. Vereinzelt stehen Häuser und Höfe, eine Windmühle, eine alte Kirche. Am Kap Sörve Säär, dem südlichen Ende, brennt seit 1646 ein Leuchtfeuer für die Schifffahrt. Der aktuelle Turm wurde 1960 neu gebaut und misst 52 m. Von hier aus können wir fast nach Kap Kolka in Lettland spucken.
Die Fähre zur Insel Muhu fährt alle 40 Minuten, die Buchung ist ganz einfach: Wir wählen die Autoschlange „ohne Vorbuchung“ und „ohne elektronisches Ticket“, fahren ans Zahlhäuschen und bezahlen 12,80 Euro. Dann geht’s in die LKW-Warteschlange. Auf der Fähre können wir das Fahrzeug verlassen und genießen die halbstündige Fahrt zur Insel Muhu vom luftigen Oberdeck aus. Zur Insel Saaremaa geht es dann bequem über einen Damm.
Ein Ziel haben wir noch auf Muhu, das Freilichtmuseum in Koguva. Kurios ist, dass der Bauernhof, die Dorfschule, die Windmühle schon immer hier standen. Und die Nachbarhäuser sind noch alle bewohnt, das Dorf lebt weiter. Im Zentrum steht der Tooma-Hof, in dem der Schriftsteller Juhan Smuul (1922-1971) geboren wurde. Die Möbel stammen entsprechend alle aus dem vergangenen Jahrhundert und wirken noch sehr vertraut.
Das Kurhaus mit dem Kuursaal zeugen von der langen Bädertradition in Pärnu. Wie radeln entlang der quirligen Strandpromenade: Der Strand ist gut besucht, Kinder sind mit Go-Karts und Segways unterwegs. Schmucke Holzvillen säumen den Rand der Parkanlagen. Idylle pur. Pärnu gilt als beliebtester Inlands-Urlaubsort der Esten. Auch viele Finnen genießen hier die günstigen Kur- und Spa-Angebote.
An der Rüütli, der Haupt-Einkaufsstraße, dominieren die hübsch renovierten, alten Stein- und Holzhäuser. Das Pärnu-Museum präsentiert 9000 Jahre alte archäologische Fundstücke. Das Chaplin Art Center residiert im ehemaligen Hauptquartier der kommunistischen Partei und zeigt Werke zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler; die engagierten Museumsleute organisieren jedes Jahr im Juli ein Dokumentarfilmfestival, das gerade läuft.
Das Denkmal zeigt Johann Woldemar Jannsen, mit Hut, Stock und Tageszeitung. Er gründete 1857 die „Perno Postimees“ („Pernauer Postbote“), die erste Zeitung in estnischer Sprache. 1869 organisierte er das erste estnische Sängerfest. Heute sind die Sängerfeste in den drei baltischen Staaten weltberühmt und zählen zum immateriellen UNESCO-Welterbe. Auf Freilichtbühnen und unter freiem Himmel singen Zehntausende gemeinsam Volkslieder.
Den Frachter „Lolland“ mit Heimathafen Gibraltar haben wir den ganzen Tag immer mal wieder beobachtet: Erst weit draußen vor der Küste, dann bei der Einfahrt in die Pärnu. Im engen Hafen, neben den Segelschiffen und Motorbooten, hat der Kapitän das große Schiff auf der Stelle gedreht. Am Liegeplatz lagern bereits riesige Stapel mit Baumstämmen, die nun per LKW zum Frachter gebracht und mittels Kran im Schiffsbauch versenkt werden. Ikea wartet auf Nachschub.
Wieder eine Grenze, die wir ungehindert passieren können: Die Grenze zwischen Lettland und Estland, zwischen Valka/LV und Valga/EE verläuft, wie in Görlitz/D und Zgorzelec/PL, mitten durch den Ort. Im alten Grenzhäuschen rechts musste man früher den Pass durch eine kleine Schublade unter dem großen Fenster schieben. Dank Schengen-Abkommen ist das zum Glück Geschichte.