Am mehreren Stellen auf der Nordkinn-Halbinsel haben wir Schranken (vegbom) und diese Schilder am Straßenrand gesehen, meist verbunden mit einem großen Parkplatz, am Bekkarfjord zusätzlich mit Schutzhütte zum Aufwärmen und Toilette, die auch im Sommer offen ist. Die Schilder markieren die Sammelplätze für die Fahrzeuge im Winter, um fünfmal am Tag gemeinsam hinter Schneepflügen über den Hügel zum nächsten Fjord zu kommen. Allein fahren geht nicht, denn die Schneehöhe kann bis zu 10 m betragen, plus Schneeverwehungen.
Vom Ilfjord Richtung Norden kommt der Straßenverkehr im Winter auch mal ganz zum Erliegen. Wenn übers Fjell nichts mehr geht, hilft nur der Wasserweg. Dem Golfstrom sei Dank, ist die Küste vor Norwegen weitgehend eisfrei. Deshalb ist am Schiffsanleger in Ilfjord im Winter wohl mehr los als im Sommer? Aktuell ist der kleine Hafen am türkisfarbenen Fjord mehr ein Sammelplatz für allerlei Materialien – Bojen und riesige Kabeltrommeln, Seile, Taue, Ankerketten, Kisten und Kästen liegen an der Hafenzufahrt, ungesichert und frei zugänglich. Skandinavier klauen nicht.
Soll der Dorsch zu Stockfisch trocknen, müssen die Tiere an den Schwänzen zusammengebunden und paarweise auf Holzgestelle aufgehängt werden. Die Luft sorgt dann für eine gleichmäßige Trocknung, ein Netzgewebe über den Gestellen hält die Vögel ab. Ein fertig getrockneter Fisch wiegt etwa ein Viertel seines Frischgewichts. Für den Transport wird er gepresst, gebündelt und verpackt. Die größten Abnehmerländer sind heute Italien und Kroatien. Soll der Dorsch dagegen frisch exportiert werden, wird er in Filets geschnitten, auf Eis gelegt und ins Kühllager gefahren.
Die Erfindung der Granatharpune, kombiniert mit der Beweglichkeit eines Dampfschiffes, markiert den Beginn des modernen Walfangs. 1884 entstand die erste Walfangstation in Mehamn, doch schon Anfang der 1890er-Jahre gingen die Fangzahlen zurück, die Walbestände brachen ein. Zeitgleich fingen auch die Fischer keine Dorsche mehr. Die Fischer glaubten, Wale jagten die Fische an Land, und als der Wal ausblieb, kamen auch keine Dorsche mehr. Aus der Verärgerung wurde 1903 ein gewaltsamer Aufstand, bei dem die Fischer Maschinen, Kessel, Ölfässer der Walfabrik zerstörten.
Mehamn ist der nördlichste Hafen der Hurtigruten-Schiffe; zweimal täglich kommen sie hier vorbei – um 19 Uhr auf dem Weg nach Kirkenes, um 1 Uhr auf der Strecke nach Bergen. Mehamn ist ein nettes Dorf mit bunt gestrichenen Holzhäuser, zwei Supermärkten, einer Tankstelle und einer Kirche, deren Turm vom Funkmast weit überragt wird. Traditionell lebte man vom Fischfang in arktischen Gewässern; hier war eine bedeutende Walfangstation. Heute kommt etwas Tourismus hinzu mit vielfältigen Touren zu Wasser und an Land, besonders auch im Winter.
Gamvik ist der nördlichste Ort des europäischen Festlands. Viele Häuser gibt es hier nicht, sie stehen aufgelockert an mehreren Buchten. Vom Fischereihafen werden die Fische zur Verarbeitung in die nahe Fabrik geliefert. Nach dem Niedergang der Fischereibetriebe hatten isländische Geschäftsleute 2012 die Fischverarbeitung übernommen und nach und nach wieder aufgebaut. Im sehenswerten Regionalmuseum (das nördlichste …), untergebracht in einer früheren Fischfabrik, haben wir einiges über den Fischfang und die Verarbeitung zu Stockfisch erfahren.
Beim Slettnes-Fyr, dem nördlichsten Leuchtturm des europäischen Festlands, haben wir eine stürmische Nacht erlebt. Von unserem Parkplatz aus hatten wir beste Sicht quer über die Barentssee nach Norden, war von links nach rechts die Krümmung der Erde spürbar. Abends kam leider der Regen und die Mitternachtssonne hat sich hinter einer düsteren Wolkendecke versteckt. Hell war es trotzdem die ganze Nacht. Morgens hatte sich der Wind gelegt, dafür sorgte der Nebel für eine Weichzeichnung des roten Turms, des einzigen gusseisernen Leuchtturms der Finnmark.
16.7. Wir sind auf dem Weg ganz in den Norden des europäischen Festlands. Die Straßen dorthin sind erstaunlich gut ausgebaut; nur von Tanabru über das Hügelland nach Ilfjord ist es noch ziemlich rumpelig. Dann führen breite, bequeme Asphaltbänder auf das über 300 m hohe Fjäll und wieder runter zum Eidsfjord, der sich von Westen her in die Halbinsel frisst. Gemeinsam mit dem Hopsfjord, der von Osten kommt, entsteht bei Hopseidet eine Engstelle, die die Nordkinn-Halbinsel fast als Insel abtrennt.
Die Gatter und Umzäunungen auf dem Ilfjord-Fjell sind eine Rentierscheide: Hier werden die Rene im Herbst zusammengetrieben und markiert. Den ganzen Sommer waren die Haustiere der Samen in kleinen Gruppen durch die Wildnis gestreift. Jetzt werden die Jungtiere mit dem Lasso gefangen und bekommen die Markierung ihres Besitzers mit dem Finnendolch ins Ohr geschnitten. Die zahlreichen Pferche sind für die Sortierung nach Besitzerfamilien sowie die Trennung der Tiere für den Verkauf, zum Schlachten oder zur weiteren Zucht.
Die Fjell-Landschaft ist überraschend wasserreich. Wir fahren an zahlreichen Seen und Tümpeln vorbei, neben mäandernden Bächen und steilen Wasserfällen. Fast jeder See hat eine Hytter, wie die Mökkis hier heißen. Wobei „Hytter“ öfter auch ein ganzes Ensemble an Hütten meint, denn auch hier gehört zu einem richtigen Ferienhaus eine separate Sauna und eine Sommerküche/ Grillhütte. An diesem See fanden es wohl viele Familien schön und haben ihre Häuser um den See gruppiert. Natürlich gibt‘s auch einfache Blockhütten am Bach oder Tümpel irgendwo im nirgendwo.
Je weiter wir in den subarktischen Norden kommen, desto kahler und karger wird die Landschaft. Auf den Höhen fahren wir – fast immer auf bestem Asphaltband – durch Schotterhalden und Geröll-Wüsten, vorbei an schrägen und senkrechten Gesteinsformationen. An See- oder Bachrändern zeigt sich hartnäckiges Grün. Und überall, wo ein wenig Erde hin geweht wurde, wachsen Moose und Flechten. Selbst in dieser kargen Einöde finden Rentiere noch Futter; im Sommer ist die Nordkinn-Halbinsel Weidegebiet von rund 6000 Tieren.
Wir haben den 71. Grad nördlicher Breite überschritten. Es ist 12 Uhr mittags und die Sonne steht in unserem Rücken. Geradeaus blicken wir auf die Barentssee. Ab hier gibt’s nur noch Wasser, später dann Einbrocken und Gletscher und irgendwann kommt der Nordpol. Diesen Besuch haben wir nicht auf unserer diesjährigen Nordland-Reise vorgesehen.
Das nordöstliche Ende Norwegens finden wir 60 km hinter Kirkenes in Grense Jakobselv. Der Weg dorthin ist erst mal überraschend gut und wird weiter ausgebaut. Wir fahren auf der Europastraße 6 nach Osten, auf der auch der Personen- und Güterverkehr Richtung Murmansk rollt. In Sichtweite des norwegisch-russischen Grenzübergangs bei Skorskog biegen wir ab und fahren über Tarnet (paar Häuser mit Schule) und Vintervollen (paar Häuser und Boote) aufs Fjäll mit Seen, Mooren, wenigen Büschen und den ältesten Steinen Norwegens (300 Mio. Jahre). Dann kommen üble 10 km Piste.
Die löchrige Lehmpiste führt entlang des Jakobselva, der hier die Grenze zu Russland bildet. Auf beiden Höhenrücken sehen wir moderne Horchposten. An der Piste dann ein Zelt mit Lagerfeuer davor und zwei norwegischen Grenzsoldaten, die freundlich grüßen. Sie schieben hier wohl Wache und beobachten das russische Ufer? Hier sind die Grenzpfosten gelb, drüben sind sie grün-rot-gestreift. Im Fluss dazwischen dürfen nur NorwegerInnen angeln. Menschen mit anderen Pässen hatten allzu oft unberechtigt die Grenze überschritten – mit den entsprechenden Verwicklungen.
Um Grenzstreitigkeiten aus dem Weg zu räumen, wurde auch die Oskar-Kirche gebaut. Nach der Grenzziehung 1826 (zuvor gab es keine Nationalgrenzen im Land der nomadischen Sami) war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen russischen und norwegischen Fischern gekommen. Statt Kanonenboote einzusetzen wurde die Kirche als gut sichtbare Wegmarke vor die Felswand gebaut und weiß gekalkt. Ein kultureller Grenzschutz, den auch die orthodoxen Fischer achteten. Auf dem Friedhof nebenan finden wir russische, norwegische, samische und finnische Namen.
Erlösung vom Pisten-Gerumpel gab es dann am Endpunkt in Grense Jakobselv an der Barentssee: Rund 15 Womos, Allradler und Zelte drängen sich an der Mole und in den Hügeln daneben. Ein Toilettenhaus für Damen und Herren mit Klopapier und Desinfektionsmittel fehlten ebenso wenig wie ausreichend Abfallbehälter; morgens wurden die Toiletten gereinigt, der Müll geleert. Abends lässt sich ein Ren durch Spazierende nicht stören, am nächsten Morgen zeigen uns drei Beluga-Wale ihre hellen Buckel in der Bucht.
Kirkenes, der letzte größere norwegische Ort vor der russischen Grenze und zugleich der Umkehrpunkt für die Schiffe der Hurtigruten, feiert heute einen europäischen Markt in seinem modernen Stadtzentrum. Zu Gast sind italienische Regionen mit Oliven, Salami, Parmaschinken und Parmesan. Aus Frankreich stammen Nougat aus Montsegur, Macarons in verschiedenen Geschmacksrichtungen und duftende Seifen aus Marseille. Die Niederlande haben ihren wohlriechenden Käse mit Erfolg ins Rennen geschickt.
Seit Juni 1940 war Kirkenes in deutscher Hand, danach wurde die ganze Region zur „Festung Kirkenes“ umgebaut. Von hier aus wollte Hitlers Armee Murmansk erobern – was niemals gelang. Im Gegenzug hat die Stadt zwischen 1941 und 1944 mehr als 1000 Fliegeralarme, davon 385 mit Bombenabwürfen erleben müssen. In den Luftschutzräumen und Tunnelgängen der Andersgrotta fanden die Menschen Schutz. Nach Kriegsende 1944 wurden die Räume und Gänge ausgebaut und dienten während des „Kalten Krieges“ als präventiver Atomschutzbunker.
Am 25.10.1944 wurde Kirkenes als erste Region Norwegens von der russischen Armee befreit. Das Denkmal des russischen Soldaten erinnert an die Befreiung von der deutschen Fremdherrschaft. Zuvor allerdings hatte die deutsche Armee Hitlers „Politik der verbrannten Erde“ umgesetzt: Die norwegische Bevölkerung wurde zwangsweise in den Süden umgesiedelt und ihre Häuser, Fabriken, Infrastruktur wurden in Schutt und Asche gelegt. Deshalb finden wir in Kirkenes heute keine alten Gebäude mehr.
14.7. Nordnorwegen ist ungleich gebirgiger als die Bereiche von Finnland, die wir bisher kennengelernt haben. Umso mehr freuen wir uns über die Kaskaden des Skoltefossen kurz nach der finnisch-norwegischen Grenze. Leider haben wir das traditionelle samische Wurfnetz-Angeln nach der Sommersonnenwende verpasst, doch auch so sehen wir viele Angler an beiden Ufern unterhalb des Wasserfalls. Der Neidenelva zählt zu den besten Lachsflüssen in Norwegen. Damit das auch so bleibt, wurde hier eine Fischtreppe angelegt.